Mittwoch, 3. Juni 2015

Gruftorexie - eine erbliche Krankheit?

Neulich war Tag der offenen Tür in der Schule.
Das Töchti wird trotz ihrem wilden Äußeren bei solchen Gelegenheiten immer wieder gern zu einem der Repräsentanten ihrer Schule gewählt und als Ansprechpartnerin für neue Schüler und deren Eltern auserkoren. Außerdem fungiert sie als Patin für eine der neuen fünften Klassen, denn das Töchti ist eloquent, höflich und hilfsbereit und im Umgang mit jüngeren Kindern sehr geduldig.
An diesem Tag arbeitete sie als eine Art Reiseleiterin und hielt Schilder mit den Nummern der Klassenräume hoch, zu denen die verschiedenen Besucher geleitet werden sollten. Zu ihren Aufgaben gehörte es u.a., Eltern und Kindern, die sich trotzdem verliefen, dabei behilflich zu sein, zum gesuchten Veranstaltungsort zu gelangen.

Für die fleißigen Helfer gab es dann irgendwann einmal eine Pause und bergeweise Kirschkuchen, der im Foyer vor der Aula an die Reiseleiter verteilt wurde. Dem Töchti blieb allerdings fast der Bissen im Hals stecken, als eine 08-15-Stino-Mutti (in der hier üblichen Stino-Mutti-Uniform mit topfigem Kurzhaarschnitt, Strickjacke, pastellfarbener Bluse und Jeans) samt Sohnemann (in feinstem Esprit- & Jack Wolfshit-Zwirn) aus der Aula kam und sich vor ihr aufbaute. Sie glotzte das Töchti, das dem Kirschkuchen fröhnte, entgeistert an. Ihre Miene wechselte zwischen Mißbilligung und Verstörung, die ihres Sprößlings zwischen Langeweile und Verständnislosigkeit.

Da die Parole "Lächeln und winken!" ausgegeben worden war, tat Töchti genau das. Hätte ja auch sein können, daß die beiden Hilfe benötigten. Aber bevor Töchti danach fragen konnte, beugte sich die Mutter zu ihrem Sohn hinunter und erklärte so laut, daß alle Umstehenden es hören konnten: "Guck mal, das Mädchen da hat eine psychische Erkrankung, sonst würde sie nicht so herumlaufen!"

Töchti runzelte die Stirn und zeigte der Mutti in Gedanken den Mittelfinger, erwiderte aber nichts, sondern biß lieber von ihrem Kirschkuchen ab. Außerdem weiß sie, daß man mit vollem Mund nicht spricht. 
Für eine 15jährige, die weiß Goth sonst nicht auf die Gusche gefallen ist, ist das schon eine reife Leistung. Ich hätte in dem Alter bei einer solch dämlichen Bemerkung nicht so gelassen reagiert, sondern die Ollsche bestimmt angepöbelt und ihr irgendetwas Unflätiges an den Kopf geworfen... oder den Kuchen... *verlegenräusper*
Die Stino-Mutti befürchtete wahrscheinlich genau das und suchte, ihr Kind hinter sich herzerrend, das Heil in der Flucht. Solche komischen Typen sind ja unberechenbar!

Die Schüler von Töchtis Patenklasse hingegen, die aus um die zehn Jahre alten Kiddies besteht, finden ihre schwarz gewandete Tante cool. Einer der Jungen, der auf Horrorfilme steht und wahrscheinlich schon Sachen gesehen hat, die nicht altersgerecht sind (Saw fand er langweilig), fragte bei der Rallye durch die Schule: "Bist du ein Grufti?" Töchti war hin und weg. So ein nettes, kluges Kind! Ein anderer Zwerg wandte ein, daß es sich ja bei Töchti auch um einen Emo handeln könne, woraufhin Töchti ihm kindgerecht zu erklären versuchte, wo die Unterschiede zwischen Gruftis und Emos liegen - jedenfalls hinsichtlich der äußeren Merkmale wie Outfit, Haartracht etc.
Der kleine Horrorfan meinte: "Man sieht dir aber an, daß du ein Grufti bist. Ich hab mich aber nicht getraut, dich anzusprechen, weil ich dachte, du könntest das als Beleidigung verstehen!" Awwwwwww.... Töchti fand das irrsinnig süß. Vorurteilsfrei und neugierig gingen die Kleinen auf Töchti zu und sind heute noch hocherfreut, wenn sie einander im Schulflur begegnen.

Aber die Stino-Mutti, die bei meinem Kind eine psychische Erkrankung anhand des Kleidungsstils diagnostizierte, nenene...
Scheint jedenfalls eine Erbkrankheit zu sein :D
Die Geschichte gab immerhin Anlaß zu fröhlichem Geläster und Gekicher, um so mehr, da Mutter und Sohn samt ihren Uniformen voll ins Dorf-Stino-Bild passten. Zu welchem Befund käme die Trulla wohl, würde man sie Pfingsten in Leipzig aussetzen? Eine Gruftorexie-Epidemie?

Naja, aber das war wieder mal irgendwie typisch für unsere Dörfler hier. Die sind echt schon ganz schön seltsam, diese Normalos...
Haste keine Jack Wolfshit- oder Hollister-Klamotten, biste in unserem Kuhkaff eh schon ein Punk, ist dein Auto älter als zwei Jahre, biste asozial, stehen die Geranien auf dem Balkon nicht in Reih' und Glied, ein Messie...
Naja, who cares? Die lästern über uns, wir über sie. So gleicht sich das wieder aus - egal, an welcher Geisteskrankheit man nun auch immer leidet...

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Hinweis: Nur ein Mitglied dieses Blogs kann Kommentare posten.